Zwischentöne

Zwischentöne

Robert Kappel

11.4.2024

Lake Kivu

Nach ein paar Jahren kehrte ich zurück in das Land, das ich vor ein paar Jahren mehrfach besucht hatte. Ich spürte dieselbe Luft, ich atmete ein, nahm einen Luftzug. Der Abend war mild, die Nacht kündigte sich mit dem Licht ihrer Gebäude, den Autoscheinwerfern und Straßenlaternen an. Willkommen. Ich fühlte gleich eine vertraute Einbettung, zumal ich von zwei freundlichen Kollegen abgeholt wurde. Wir sprachen, doch ich schaute zum Fenster heraus, wollte erspüren, ob es etwas Überraschendes geben würde. Alles war beinahe unverändert. Ich ließ mich fallen, holte das Mückenspray heraus, cremte mich ein und ließ mich ein zweites Mal fallen. Angekommen im Hotel, nahmen die Sachen Fahrt auf. Das Zimmer hell, von der Straße meldete sich der Verkehr. Auf der Terrasse gab es zu essen, eine Band spielte. Die Bässe hingen tief. Afrobeat aus dem Kongo, alle Tänzerinnen sangen mit. Die Gitarrenriffs holten mich aus der Müdigkeit des Fluges heraus. Angekommen.

Der Regen hatte Kälte gebracht, die Sonne löste die Nebel auf. Der Morgen zeigte sein wahres Gesicht, Frische zum Aufatmen. Der Kaffee war stark, lokal geröstet. Das hatte sich geändert. Überall auf den Straßen kleine Coffeeshops, doppelter Arabica Espresso. Dazu Croissant.

Die Straße voll von schlendernden Menschen, langsame Schritte, um mit der Hitze zurecht zu kommen, denn um 11 Uhr hatte die Temperatur die Macht ergriffen. Die Mittagssonne blendete.

An mir rasten die Motocycles vorbei, alle die gleiche Farbe und das gleiche chinesische Modell. Es scheint, als gäbe es nur einen Anbieter. Dieser betreibt zahlreiche Verkaufsstätten. Mehr Autos als Motorcycles. Sie agieren als Transportunternehmen. Der Preis für eine Fahrt ist deutlich geringer als für Pkw. Auto, Motorcycles, Lkw und Fahrräder konkurrieren auf den Straßen. An den Übergängen bleiben die Autos stehen, wenn Fußgänger die Straße überqueren wollen. Zebrastreifen weisen beide Seiten an. An den Ampeln stoppen die Autos, bei Rot geht es gesittet zu, alle halten sich an die Regeln.

Die Stadt liegt auf Hügeln, wie viele weiß keiner. Die Straßen laufen parallel, immer an Hügeln entlang. Überall ist gepflanzt worden, die Stadt ist grün in diesen Tagen. Manche Pflanzen und Bäume verdecken die Sicht auf den Präsidentenpalast, auf Militäranlagen und auf die Armenviertel. Irgendwie Sichtschutz.

Es liegen keine Plastikflaschen und Plastiktüten oder gar Müll herum, die Stadt ist sauber und verglichen mit anderen Metropolen strahlt sie Gelassenheit und Zuversicht aus. Zwar rauben die Abgase der Verkehrsmittel die frische Luft, und wenn es windstill ist, legt sich auch ein leichter Hauch von Dunst über die Stadt. Aber die Pflanzen und Bäume, die die Stadt überwölben, entziehen viele Schadstoffe. Wenn es regnet oder ein Wind weht, nimmt der Dunst Reißaus, bis alles wieder von vorne anfängt. Eine schöne Stadt, sie lädt zum Schlendern ein, so sieht es jedenfalls aus. Die Menschen auf den Straßen gehen zur Arbeit und kaufen ein, in manchen Vierteln staut sich am Morgen und gegen Spätnachmittag der Verkehr. Aber kein Vergleich mit Accra oder Lagos. Vor allem in den Vorstädten haben sich große Menschenmassen zusammengefunden. Hier gibt es die geschätzten Millionen von kleinen Läden, Supermärkte für die Mehrheit der Bevölkerung. Mehrstöckige Häuser mit vielen oft dicht gedrängten Läden. Konsumgüter aller Arten: Handy, Bettwäsche, Hosen und Hemden, Gemüse und Obst. Friseure, Reisebüros, Versicherungen. Alles ist auf engstem Raum verfügbar. Ein organisches Neben- und Durcheinander. Es funktioniert, wenn auch nicht nach meinen Maßstäben. Aber diese wohl geordnete Kaufladenstruktur versteht jeder. Kopfschütteln sollte man sich lieber sparen, denn wir werden es nicht verstehen. Wir verstehen auch nicht, wie viele Menschen hier Arbeit und Brot finden, oft genug an der Grenze zur Armut.

Hier geschehen auch von allen hingenommene Maßnahmen, beispielsweise beim Eintreten in ein mehrstöckiges Gebäude mit Kleinstunternehmen. Sicherheitsleute in blauen Uniformen stehen herum, die die Gepäckstücke durch eine Schleuse – wie am Flughafen – führen. Handy in eine Schachtel legen, alles andere muss in die Schleuse. Das geht schnell, ganz ohne Probleme und manchmal leuchten sogar die Lampen rot und grün auf. Ob die Geräte überhaupt funktionieren? Ob oder nicht, entscheidend ist, dass Sicherheitsorgane mit ihren Anlagen oder Gewehren kontrollieren. Eine Art Protokoll, alles wird protokolliert. Alles wissen. Protokolle werden nicht angefertigt, aber es wird der Anschein erweckt, als werde alles wahrgenommen. Und das überall im ganzen Land. Manchmal geht es weniger routinemäßig zu. Plötzlich eine Sperrung einer Straßenseite, Gewehre im Anschlag. Der Verkehr kommt in die Warteschleife. Schlendernde Soldaten, Polizisten, Sicherheitsleute mit oder ohne Uniform.

Alle halten sich an die Geschwindigkeitsvorschriften. Das reduziert Verkehrsunfälle. Nur manche Raser verstoßen dagegen. Ein Unfall. Während in Deutschland die Polizei erst gerufen werden muss und sie dann irgendwann eintrifft, ist die Polizei in meinem kleinen geliebten Land sofort zur Stelle, weil sie überall präsent ist. Man muss nicht auf den Freund und Helfer warten, er ist immer und überall. Die Unfallgeschichte lässt sich leicht klären, nach ein paar Minuten können die Fahrzeughalter weiterfahren. Natürlich geht es nicht immer schnell und manchmal müssen die streitenden Parteien Zeit mitbringen.

Es gibt auch bewaffnete Ecken. Fotografieren verboten, manchmal unerklärlich. Hier ist doch eine so schöne Parklandschaft in der Stadt. Die Sonne verzieht sich gold- gelblich-rot hinter den Bäumen. Schnell noch ein Bild machen. Ein schneller schwarzer Bus überholt, hält unser Fahrzeug an. Schwarz gekleidete Männer schlendern ruhig auf uns zu und verlangen die Löschung des schönen Abendbildes. Fotoabend, Stimmungsfotos. Ermahnung, klare Ansage, keine Widerrede. Wir fahren weiter. Protokoll sagt an. Auf dem fotografierten Gelände soll ein neuer Präsidentenpalast entstehen.

Das Land organisiert seinen Umbruch. Die Anstrengungen im Bildungsbereich sind immens, überall Schulen. Die Kinder tragen Uniformen, alle Farben, Schülerinnen mit Rock. Manche tragen kleine schwarze Krawatten. Am späten Nachmittag machen sie sich auf den Weg nach Hause und dominieren das Straßenbild. Ein langer Tag. Eine neue Generation von Bessergebildeten, lesemächtig und wissensdurstig. Wohin wird ihre Reise gehen?

Die Hauptstadt erstrahlt immer mehr. Viele neue Gebäude, sogar das große Stadium wird renoviert. Aber eine Hinweistafel, dass dort Hunderttausend Menschen gefoltert, vergewaltigt und geschlachtet wurden, fehlt. Die Geschichten des Genozids sind dennoch gegenwärtig. In den Familien – Opfer, Täter quer durch die ganze Gesellschaft.

Es gibt auch Stadtfarming. Überall die kleinen Gärten. Männer und Frauen ackern auf ihren kleinen Feldern, ernten Bananen und Gemüse. Sie bringen ihre Waren auf die Märkte am frühen Morgen, alles ist frisch.

Die Landschaft erstrahlt, alles grünt. Die Bananenbäume hängen voll, Kaffee, Gemüseanbau, bis auf die Höhen auf. Terrassen bis hoch an den Horizont. Aufgehäufte Beete für den Kartoffelanbau. Einzelne Bauernstellen reihen sich aneinander, eine nach der anderen. Von den Hauptstraßen geht es über kleine Pfade oft steil hinauf. Manch ein armer Bauer hat nur eine Kuh.

Es regnet und die bräunliche Erde sucht sich ihren Weg nach unten. Manchmal gibt es kleine Orte mit Läden, hier stehen die jungen Menschen, manche sitzen auf ihren Motorcycles und warten auf Passagiere, die sie über die steilen Wege die Hügel oder Berge hinaufbringen. Hier haben Autos keine Daseinsberechtigung, zu steil und unbefestigt. Für Fahrräder sind die Hänge ebenfalls zu steil, bleiben also die chinesischen Motorcycles oder der Fußmarsch.

In manchen kleinen Orten brummt das Leben. Läden über Läden, viele Banken und Kirchen, Wetträume, Bars, kleine Emmaläden mit einem Sortiment aus Getränken und Lebensmitteln. An den Tankstellen oder kleinen Plätzen sammeln sich die Motorcycles. Offenbar gut organisiert. Die Jugend kommt zusammen. Die Alten im Hintergrund, respektiert. Kaum jemand raucht. Rauchfreie Zone.

Am See liegen die kleinen Boote. Wir steigen ein, die Fahrt geht los. Ein Bilderbuch-Sonnenuntergang. Wir schauen auf den See, da drüben ein anderes Land, eine Millionenstadt nur einen Steinwurf entfernt, sie leuchtet friedlich. Der See taucht in gelb, rot, violett. Stille breitet sich aus, nur der Motor brummt leise. Eine Militärpatrouille nähert sich. Sie warnt nicht vor der vor uns liegenden Grenze in der Seemitte, sie zählt lediglich die an Bord befindlichen Personen. Alles in Ordnung, schließlich tragen auch alle eine Weste. Bedrohlich dreht das schwarz angestrichene Schiff mit seinem montierten Maschinengewehr ab. Kontrolle. Wir wissen schon. Der lange Atem ist wieder da. Meine Kollegin sagt: „Hier gibt es keine Grenzen. Goma hat keine Grenze zu Ruanda. Alles ist offen, auch der See. Alles eine Einheit, der Teil Kongos ist verbunden mit uns“. Ich zeige auf die Stadt und sage, erzähl mir, wo die Grenze verläuft. „Es gibt keine Grenze, alles gehört zusammen“. Ich denke, oha. Was wird auf die Menschen zukommen, wenn die Grenze sich verschiebt.

Kleine Fischerboote liegen vor Anker, sie leuchten die Fische heran. Tilapia gibt es immer. Große Trawler haben den See nicht leer gefischt, lohnt sich nicht. Ein Segen für die lokalen Fischer. An den Hängen des Sees leuchten die Villen. In der Bucht eine kleine Stadt.

Es wäre schön, die Seenplatte bis nach Malawi zu schippern. Vielleicht nächstes Mal. Auch die Gorillas müssen uns auf uns verzichten. Mein Blick schweift über die Hügel, manchmal überwölbt von den hohen Bergen, die majestätisch thronen. Vor über 100 Jahren zogen die kolonialen Schutztruppen ihre mörderische Spur. Die Folgen sind bis heute spürbar. Grenzen, Kolonialbauten.

Eine neue Zeit beginnt. Sie hat sich von dieser Vergangenheit gelöst. Sie schaut nicht mehr nach Europa, sondern nach innen. Eigenständige Bewältigung der Herausforderungen, Lösungen und auch Verwerfungen. Wie sagte ein hochrangiger Pastor zu uns: Lasst uns durch die panafrikanische Solidarität neue Brücken über die Grenzen hinweg bauen. So sieht es aus und wir aus dem Norden sollten das Verstehen und akzeptieren. Die Zeit imperialer Auflagen, Konditionen, Normen und hochnäsiger Empfehlungen ist vorbei.

Wir fahren zurück in die Hauptstadt. Sie glänzt. Sie strahlt. Wir lachen in unseren Gesprächen. Es ist vertraut und mild, die Temperaturen sind angenehm. Die Sonne wärmt ein wenig, wir bleiben stehen und erleben die Stille, die uns an das Vergangene erinnert und uns immer wieder vor Augen führt, dass wir das Protokoll erfüllen müssen. Durch die Schleuse noch einmal.